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Fotostrecke

Lost Places: Wie die Natur Ruinen in Kunst verwandelt

Foto: Sven Fennema/ Frederking & Thaler Verlag

Fotos von vergessenen Orten Untergang in Grün - wenn die Natur siegt

Efeu erobert Schlösser, Wurzeln sprengen Kirchenmauern: Sven Fennema hat überall in Europa fotografiert, wie die Natur verlassene Orte erst kunstvoll verwandelt - und dann dramatisch zerstört.

Einladend weich sieht es aus, das Bett mit seiner flauschigen grünen Decke. Warmes Licht durchflutet den Raum, ein Hotelzimmer im Hochharz, nur einen Fußmarsch vom Gipfel des Brocken entfernt. Das ganze Farbkonzept scheint gekonnt durchkomponiert: grüner Teppich, grüne Stuhlpolster, viele Grünflächen an Decken und Wänden, die nur stellenweise verputzt sind - angesagter Shabby-Chic-Stil. Lediglich der alte, schwarze Röhrenfernseher wirkt wie ein Fremdkörper.

Nur: Kein Tourist hat dieses schöne Zimmer in den vergangenen Jahren gebucht. Niemand hat hier geschlafen. Der einzige Gast war weder willkommen, noch hat er gezahlt. Und doch ist er geblieben.

Die Natur hat dieses Zimmer übernommen, als das Hotel vor acht Jahren nach einem Großbrand schließen musste. Und sie hat das Zimmer schöner gestaltet, als es der Mensch vermocht hätte: die flauschige grüne Bettdecke, der Teppich, die Wandfarben - alles Gras, Moos, Grünspan.

Hotel im Harz

Hotel im Harz

Foto: Sven Fennema/ Frederking & Thaler Verlag

Vor dem Heizkörper sprießen Pflanzen, das Werk ist noch nicht vollendet: Als Innenarchitekt arbeitet die Natur langsam, aber unaufhörlich und setzt ständig neue, überraschende Akzente.

Noch jemand besuchte kürzlich dieses verlassene Zimmer: Der Krefelder Fotograf Sven Fennema, der solche Kunstwerke der Natur mit seiner Kamera dokumentiert, meisterhaft in Szene setzt - und so selbst neue Kunst schafft. Er sucht und findet die Spuren in verlassenen Schlössern, Fabriken, Dörfern, Villen, Kathedralen oder eben Hotels.

Märchenhafte Begegnungen

Der 36-Jährige liebt dieses schmale Zeitfenster, wenn sich Symbole des Fortschritts und der Zivilisation langsam zurückbilden, um sich schließlich in ihr Gegenteil zu verkehren: Der Mensch ist gegangen, die Natur übernimmt und verändert, am Ende zerstört sie. "Immer wieder bin ich tief beeindruckt, wie immens die Kraft der Natur ist - und wie schön das Resultat sein kann", sagt Fennema.

Seit Jahren fahndet er in ganz Europa nach solch verborgenen Schätzen. Für seinen neuen Bildband "Neuland" durchforstete er Postkartenarchive und stöberte in alten Zeitungsberichten.

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Lost Places: Wie die Natur Ruinen in Kunst verwandelt

Foto: Sven Fennema/ Frederking & Thaler Verlag

Besonders gern zoomte Fennema sich auf Satellitenaufnahmen tief hinein in eine grüne Welt, sobald er verlassene Gebäude entdeckt zu haben glaubte. Dann ging er aufgeregt auf Reisen durch Deutschland, Polen, Italien, Frankreich, Belgien und Luxemburg, stets zu Orten, die möglichst lange niemand gesehen hatte.

Manche fand er trotz aller Planung zufällig, fast märchenhafte Erlebnisse: Da ist der Fotograf auf dem Weg zu einem verlassenen Schloss in der belgischen Wallonie und entdeckt plötzlich in einem Waldstück Dutzende rot-verblichene Stühle. Schlanke Baumstämme pressen sich genau durch die kleine Lücke zwischen Rückenlehne und Sitzfläche der Stühle.

Was war hier passiert? Ein Kunstprojekt, das nie abgebaut wurde? Ein längst vergessener Scherz? Fennema weiß es nicht. Seine Fantasie erzählt ihm in solchen Momenten die wildesten Geschichten. Geschichten vom Siegeszug der Natur.

Stuhl-Kunst

Stuhl-Kunst

Foto: Sven Fennema/ Frederking & Thaler Verlag

Beeindruckend zeigen Fennemas Bilder wie im Zeitraffer die Rückkehr der Natur, die an den Zyklus der Jahreszeiten erinnert: Da ist, wie im Frühling, das vorsichtige Eindringen, wenn erste Efeuranken sich schüchtern durch Spalten brüchiger Gemäuer tasten. Mit der Zeit verwandelt die Natur die verlassenen Orte immer drastischer, am Ende wartet wie im Winter der Tod: Bäume recken sich durch klaffende Löcher alter Palastdecken. Der Verfall ist weit fortgeschritten, der Kollaps unvermeidlich.

Einige Ruinen, die der Fotograf besuchte, existieren inzwischen nicht mehr. Andere wären nur unter Lebensgefahr zu betreten. Und manchmal versetzt nicht die Natur, sondern Vandalismus alten Gemäuern den Todesstoß. Deshalb gibt Fennema meist nur vage Hinweise auf den Standort der fotografierten Ruinen.

Irgendwann verstummen diese Zeitzeugen

Seine Arbeit ist immer auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Die vernarbten Gebäude verraten ihre Geschichten; irgendwann verstummen sie wie die letzten hochbetagten Zeitzeugen vergangener Weltkriege.

Oft sind es berührende, manchmal sehr traurige Geschichten. In einer der schönsten Städte der Toskana etwa findet sich ein verlassener Ort, den die Natur radikal verändert hat: eine 1978 verlassene Psychiatrie, eine der größten und schlimmsten in Italien.

Wer hierher kam, kehrte oft nicht zurück. Schwestern nannten sich "Wärter", Patienten wurden verwahrt statt geheilt, isoliert von Verwandten, weggesperrt wie Kriminelle. Davon zeugen verwaiste Rollstühle, zellenartige Zimmer und Betten mit Zwangsgurten. "Die Schönheit der Umgebung und die schreckliche Geschichte bilden hier einen sehr harten Kontrast", sagt Fennema.

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Fennema, Sven, Gunkel, Christoph

Neuland: Eroberungen der Natur

Verlag: Frederking & Thaler
Seitenzahl: 240
Für 56,99 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

02.05.2024 04.10 Uhr

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Dabei begann in der Klinik alles mit einer guten Idee: Auf dem Gelände eines früheren Klosters wurde Ende des 19. Jahrhunderts eine Abteilung für geistig Kranke eröffnet. Ein ambitionierter Psychiatrie-Direktor wollte sie im 20. Jahrhundert umformen in ein Dorf mit Geschäften und einem landwirtschaftlichen Betrieb. Die Patienten sollten sich frei bewegen und nach ihren persönlichen Stärken auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereitet werden.

Doch nachdem der Direktor 1934 starb, ging auch der fortschrittliche Geist verloren. NOF4 nannte der bald berühmteste Patient der Anstalt sich selbst. Als er 1968 eingewiesen wurde, war die Klinik schon heillos überfüllt. In der geschlossenen Abteilung wurden Patienten mit Elektroschocks behandelt und angeblich auch Medikamente an ihnen getestet.

Der einsamste Patient

NOF4, eine verdrehte Abkürzung seines Namens, war als Zehnjähriger erstmals in eine Psychiatrie eingewiesen worden. Später arbeitete er kurz als Elektriker, beleidigte Mitte der Fünfzigerjahre aber einen Beamten derart, dass er erneut eingewiesen und als schizophren diagnostiziert wurde. In einer Klinik in Rom fiel er auf, weil er Tag und Nacht redete. Verlegt in die Psychiatrie in der Toskana fiel er auf, weil er fast völlig verstummte.

Still floh NOF4 in eine Phantasie-Parallelwelt. Sein Fluchthelfer: eine Gürtelschnalle. Damit ritzte er unermüdlich mysteriöse Zeichen in die Außenwände eines Innenhofs. Jahrelang. Zentimeter für Zentimeter, bis er weit mehr als hundert Quadratmeter bedeckt hatte.

NOF4 erschuf seine eigene Bildsprache, meißelte Seite für Seite sein "Buch des Lebens" in den Putz. Damals verstand ihn kaum jemand. Heute gilt sein Werk manchen als Kunst. Seine rätselhaften Inschriften handelten von "nuklearen Einbrechern" und Alchemie, von fernen Galaxien und Botschaften, die er per Telepathie oder elektromagnetischen Wellen empfangen habe.

In seinen Erzählungen nannte sich der Italiener "Astral-Oberst" und "Weltraum-Bauingenieur des geistigen Systems" und berichtete von den Heldentaten seiner königlichen Familie. Doch die Familie, von der er träumte, gab es nicht. NOF4 schrieb erdachten oder echten Verwandten Briefe; sie blieben ohne Reaktion.

Bildsprache der Natur

Als er nach 14 Jahren 1973 in eine fortschrittlichere Klinik verlegt wurde, stand in seiner Krankenakte: "Es ist traurig. Wir ziehen es vor, nicht niederzuschreiben, was ein Geisteskranker nach so langem Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt zu sagen hat, in denen er niemals von Freunden oder Verwandten besucht wurde." 21 Jahre später starb NOF4, immer noch einsam und krank.

So ist die heute vergessene Anstalt ein Ort der doppelten Verwandlung: Hier konnte Gesunde zu Kranken werden, Kranke aber selten zu Gesunden. 1978 führte ein Gesetz zur Schließung der schlimmsten Irrenanstalten Italiens. Seitdem hat die Natur hier einen drastischen Rollenwechsel erzwungen: Nunmehr halten Wurzeln und Efeu jene Mauern gefangen, die einst Menschen gefangen hielten.

Eine verlassene Kirche

Eine verlassene Kirche

Foto: Sven Fennema/ Frederking & Thaler Verlag

Es sind solche Umdeutungen, die Fennema so sehr faszinieren. Auch in einer verfallenden Kirche in Süditalien: Früher knieten hier die Gläubigen auf harten Gebetsbänken und sangen zu getragener Orgelmusik. Heute ist alles still, das Kirchendach längst eingebrochen und verschwunden. So ist der Besucher dem Himmel näher als einst der Betende.

Und genau dort, wo einst der Altar stand, reckt sich nun ein Baum immer weiter nach oben: zum Licht, zum Regen, zur Sonne. "Eine schönere Bildsprache kann man sich kaum ausdenken", sagt Sven Fennema. "Die Natur hat dem Bauwerk einen neuen Sinn gegeben. Und dabei selbst neue Kunst geschaffen.


Dies ist ein redaktionell gekürzter und veränderter Auszug aus Sven Fennemas Bildband "Neuland", zu dem Christoph Gunkel die Texte geschrieben hat.